Der Vater eines Mörders
Die autobiographischer Erzählung einer Griechischstunde im Jahre 1928 im Wittelsbacher Gymnasium in München wurde aus der Perspektive des Schülers Franz Kien (=Alfed Andersch) verfasst. Auf 140 Seiten werden in meinen Augen ausgezeichnet die damaligen Macht- und Beziehungsstrukturender anhand dieser Griechischstunde dargestellt.
Der Direktor - von den Schülern Rex genannt - taucht ohne Vorwarnung für Schüler und Lehrer zu der Griechischstunde auf, in deren Verlauf er ohne Skrupel erst den Lehrer und dann auch die Schüler bloßstellt. Zunächst beginnt die Stunde aber harmlos. Der Direktor überlässt dem Lehrer die Führung des Unterrichts, der aus Kiens Sicht einen Fehler nach dem anderen begeht. So ruft er den Klassenprimus als erstes auf und verschießt damit nach Kiens Meinung sein bestes Pulver gleich am Anfang. Nur kurze Zeit später übernimmt der Rex auch offensichtlich die Führung der Stunde. Erst kanzelt er einen anderen Schüler ab, bevor er Kien drannimmt. Kien, ein begabter, aber fauler Schüler, sieht sein letztes Stündlein schlagen. Im Stillen fragt er sich, warum zwar alle von ihm sagen „Er könnte, wenn er wollte“, aber niemand die eigentlich wesentliche Frage stellt – warum er nicht will.
Kien bietet an der Tafel ein Bild des Jammers, aber er muss sich eingestehen, dass der Rex ihm trotz seiner gebieterischen Art etwas in diesen Minuten über den Akzent beigebracht hat. Gleichzeitig empfindet er volle Verachtung vor diesem Direktor, der sich als großer Humanist darstellt, und trotzdem andere Menschen demütigt. Auch der Lehrer wird bei Korrekturen der sprachwissenschaftlichen Ausführungen des Direktors nicht gehört (und die Fehler sind sogar mir vor der Intervention des Lehrers aufgefallen, obwohl ich kein Griechisch kann), sondern mit verbaler Gewalt zum Schweigen gebracht. Hier gilt nur das Wort des Direktors, egal ob richtig oder falsch. Es genügt, dass sie aus seinem Munde kommen. Dabei ist er keineswegs ausfallend oder primitiv, er weiß nur geschickt seine Macht auszunutzen.
Das Charakterbild des Direktors, das im Laufe der Erzählung gezeichnet wird, vermag ich hier nicht wiederzugeben. Aber etwas anderes wird deutlich: Die Grausamkeiten des 3.Reiches sind nicht trotz Beethoven und Goethe geschehen, sondern wegen der damaligen Erziehung zu Gehorsam und Ertragen müssen von Ungerechtigkeiten. Der Direktor des Münchner Wittelsbacher Gymnasiums, der aus einer humanistisch gebildeten Familie des Bürgertums stammt und ein Verehrer der alten Griechen war, war auch der Vater des wohl größten Massenörders in der Geschichte der Menschheit. Er war der Vater von Heinrich Himmler, dem Reichsführer der SS.
hippogriff, 242.11.2002
