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Leselupe.de > Erzählungen
Die Tänzerin
Eingestellt am 06. 06. 2016 15:46


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müder Dichter
Wird mal Schriftsteller
Registriert: May 2016

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Die Ampel schaltete auf grün und Alina beeilte sich die Straße zu überqueren. Es war Samstagmittag und das schöne Wetter hatte die Menschen aus den Häusern gelockt. Nur mit Mühe konnte sie den entgegenkommenden Menschenmengen ausweichen und einen Zusammenstoß auf dem Zebrastreifen vermeiden. Genervt über die Rücksichtslosigkeit und Sturheit der anderen Passanten erreichte sie den gegenüberliegenden Bürgersteig. Alina folgte der Straße und gelangte nach ein paar hundert Metern zu einem kleinen städtischen Park, der sich unweit von ihrer Wohnung befand.

Sie betrat die Grünanlage durch das offenstehende Tor und folgte dem Naturpfad bis sie zu ihrer Lieblingsstelle gelangte. Einer roten Parkbank, hinter der sich eine alte Eiche gegen den Himmel streckte. Die mächtigen und mit Blättern behangenen Äste des Baumes ragten über die Sitzgelegenheit und spendeten im Sommer kühlenden Schatten. Erleichtert stellte Alina fest, dass noch niemand hier war und so setzte sie sich an den äußersten linken Rand der Sitzfläche. Aus ihrer Tasche entnahm sie ein Buch und begann zu lesen.

Alina gelangte gerade ans Ende der fünften Seite ihres Romans, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie sich jemand von rechts näherte und neben ihr auf der Parkbank Platz nahm. Sie seufzte innerlich und hoffte, dass es sich nur um einen Rentner handelte, der nach einer kurzen Verschnaufpause bald wieder weiterzog. Alina wagte einen verstohlenen Blick zur Seite.

„Hallo“, wurde sie umgehend von einer Männerstimme begrüßt.
„Tag“, gab Alina etwas reserviert zurück.
„Gibt doch nichts Schöneres als im Park ein wenig zu lesen. Ich les gerade das neue Buch von S***. Und sie?“, fuhr der Unbekannte fort.

Alina streckte ihm wortlos den Frontdeckel entgegen, damit er den Titel lesen konnte. Dabei blickte sie ihm für einen kurzen Moment direkt ins Gesicht, senkte danach aber gleich wieder ihre Augen. Seine unerwartete Attraktivität machte Alina verlegen. Er ließ sich von ihrer Zurückhaltung nicht beirren.

„Ist ihr Buch denn gut? Ich fahr schon bald in die Ferien nach Griechenland. Bin immer froh um gute Buchtipps.“
„Ist ganz in Ordnung“, erwiderte Alina ohne ihn erneut anzuschauen. Sie merkte wie sie leicht zu schwitzen begann. Trotz ihrer vierunddreißig Jahre kam sie sich wie ein unbeholfenes Schulmädchen vor, ob der Flirtversuche ihres Sitznachbarn.

„Sie müssen mir sagen, wenn ich sie vom Lesen abhalte. Dann lass ich sie in Ruhe. Aber ich finde es einfach spannend, auf Leute zu treffen, die heutzutage noch ein Buch lesen. Sonst starren doch alle nur noch in ihre Handflächen“, gab er amüsiert von sich.
„Nein, ist schon in Ordnung“, sagte Alina und bemerkte überrascht wie sich ihre Stimmung aufheiterte. Neugierig wagte sie einen zweiten Blick auf den Fremden. Er war wohl etwas älter als sie, hatte dunkles, kurzgeschnittenes Haar, vertrauenserweckende blaue Augen und ein charmantes Lächeln.

Es war ihm nicht entgangen, dass sich Alina zu entspannen begann. Ermutig davon sprach er weiter. „Also mit historischen Romanen, da kann ich mich stundenlang beschäftigen. Da fühl ich mich so richtig in eine andere Zeit versetzt und vergesse alles andere um mich herum. Was aber gar nicht geht sind Liebesromane. Die sind mir dann doch zu oberflächlich“, fuhr der Unbekannte fort.
Alina begann plötzlich in ihrer Handtasche zu wühlen und kramte hastig ihr Mobiltelefon hervor. Nach einem prüfenden Blick auf das Display sagte sie halblaut. „Ach, schon so spät. Dann noch einen schönen Nachmittag.“

Der Mann blickte sie sichtlich irritiert an, während sie ihr Buch und das Telefon in der Tasche verstaute. „Oh wie schade, dass sie schon gehen müssen. Wünsche ihnen auch einen schönen Nachmittag…“.

Alina stand auf bevor er seinen Satz richtig vollenden konnte und verließ die Parkbank in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nach zirka fünfzig Schritten hielt sie kurz inne. Die Heftigkeit ihrer Reaktion auf die Äußerungen des Unbekannten überraschte sie selbst. Eigentlich war er ihr sympathisch und Alina sehnte sich schon lange danach einen interessanten Mann kennen zu lernen. Doch als er das Wort „Oberflächlichkeit“ benutzte, hat sich ihr Magen zusammen gezogen. Jahrelang musste sich Alina in ihrer letzten Beziehung den Vorwurf anhören über nicht genug Tiefgang zu verfügen. Es gäbe in ihrem Leben nur noch ihren damaligen Freund und nichts darüber hinaus. Er beschwerte sich häufig, sie solle sich auch mal mit anderen Themen beschäftigen und ihm noch etwas Luft zum Atmen lassen. Nachdenklich und bedrückt ging Alina weiter und verließ den Park.

Sie spürte, dass ihr ein bisschen Bewegung gut täte um auf andere Gedanken zu kommen und so beschloss sie, nicht auf direktem Weg nach Hause zu gehen, sondern einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Also schlenderte sie die Straße entlang. Nach einiger Zeit erreichte sie ein Schulhaus, auf dessen Vorplatz ein Flohmarkt veranstaltet wurde. Neugierig, doch ohne Absicht etwas zu kaufen, bog sie auf das Schulgelände ein. Gemächlich ging sie die Verkaufsstände entlang. Es waren bestimm deren zwanzig. Das Angebot war nicht sonderlich interessant. Alte Lampen, CDs, Bücherregale und allerhand anderer Dinge, für die ihre bisherigen Besitzer keine weitere Verwendung mehr hatten. Nach der Hälfte der Stände hatte Alina genug gesehen und wollte bereits wieder umkehren, als sie unter einem grünen Zeltdach aus Blachenstoff, zwischen diversem Krimskrams, doch etwas entdeckte, das ihre Neugier weckte. Sie trat etwas näher um besser sehen zu können.

„Darf ich mir das da mal näher ansehen?“, fragte sie den älteren Herrn, der neben der Ware auf einem Klappstuhl saß und ihr Interesse bereits bemerkt hatte.
„Klar doch! Ein schönes Stück aus den Sechzigern. Sie dürfen es auch ruhig anfassen.“

Behutsam nahm Alina eine kleine Tänzerin aus Porzellan vom Verkaufstisch. Sie stellte den Sockel der Figur auf ihre linke Handfläche und krümmte ihre Finger leicht um sie sicher halten zu können. Alina betrachtete das mädchenhaft wirkende Gesicht der Ballerina. Die dünne Stupsnase im Zusammenspiel mit den nicht vollständig geöffneten blauen Augen und den langen dunkelbraunen Brauen verliehen ihr einen hochnäsigen, fast schon gelangweilten Ausdruck. Nur die zu einer V-Form in die Höhe gestreckten Arme und nach Außen gewinkelten Hände ließen die künstlerische Konzentriertheit der Tänzerin erahnen, die mit leidenschaftlichen Drehungen den rosaroten Saum des Weißen, schulterfreien Kleidchens zum Heben brachte. Mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand strich sie sanft über die feinen Spitzen des Rocks. Das abwechselnde Gefühl von Kitzeln und Piksen entzückte sie.

„Eine Großtante von mir war in ihren jungen Jahren Tänzerin am Staatsballett.“ begann der freundliche Herr zu erzählen. „Als kleiner Bub hab ich ihr gerne zugehört wenn sie uns Geschichten von ihren Auftritten auf der ganzen Welt erzählt hatte. Einfach unvorstellbar war das für uns Kinder. So ein Leben voller Leidenschaft und Freiheit hätte ich auch gerne geführt.“ schwelgte der Mann in Erinnerungen. „Hat aber kein gutes Ende genommen mit ihr. Sie wurde im Alter recht unzugänglich und ist einsam im Pflegeheim verstorben.“

„Das tut mir leid zu hören. Wieviel wollen sie dafür?“, erkundigte sich Alina.
„30ig“
„Einverstanden!“, sie bezahlte den Preis, lies sich die kleine Figur mit Packpapier umwickeln und legte sie vorsichtig in ihre Tasche.

Alina machte sich auf den Heimweg. Es war nicht mehr weit bis zum vierstöckigen Haus in dem sie wohnte. Nachdem sie den kleinen Vorgarten durchschritten hatte stieg sie drei Treppenstufen hinauf zur schweren hölzernen Eingangstür. Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss.

Im Wohnzimmer setzte Alina sich auf das Sofa, nahm die soeben erstandene Keramik aus ihrer Tasche und sah sich im Raum um. Sie war auf der Suche nach dem bestmöglichen Platz für das Schmuckstück. Sie stand auf und ging zur Kommode. Stellte die Figur auf die Abstellfläche, begutachtete das Ergebnis und war unzufrieden damit. Sie verschob die Blumen und eine Fotografie um der Tänzerin einen neuen Platz zu geben. Doch wieder war Alina mit dem Resultat nicht glücklich. Sie lief rüber zum Wandregal, schob die darauf stehende Zimmerpflanze zur Seite, stellte eine Kerze um, platzierte die Bücher abwechselnd mal links, mal rechts, dann doch wieder in die Mitte des Regals. Es stimmte für Alina einfach nicht. Auch im Vitrinenschrank, der sich in einer Ecke des Wohnzimmers befand, ließ sich einfach kein Platz für die Ballerina finden, der ihr gerecht wurde. Es war zum verrückt werden. Angestrengt dachte sie nach, wie das Problem nun gelöst werden könnte. Mit einem verbissenen Gesichtsausdruck stellte sie die Figur auf das Wandregal, lief zum einen Ende des Sofas, bückte sich und begann zu heben. Rückwärts und leicht nach vorne gebückt zog sie dieses in die Mitte des Raumes. Danach ging Alina zurück zum Vitrinenschrank, räumte dessen Inhalt auf den Boden, eilte ins Badezimmer und holte von dort ein dickes Tuch. Sie stöhnte, als sie die Vitrine leicht anhob um den Stoff unter das Möbelstück zu schieben. Danach begann sie das wacklige Konstrukt langsam an den Platz zu schieben, an dem vorher das Sofa stand, räumte alle Gegenstände vom Boden wieder in den Schaukasten und holte die Tänzerin. Sie probierte alle möglichen Anordnungen von Ballerina und Dekorationsgegenständen aus. Sinnlos. Draußen begann es dunkel zu werden und Alina musste das Licht anzünden. Jetzt viel ihr Blick wieder auf die Kommode, schweift dann rüber auf den Platz an dem zwischenzeitlich die Vitrine stand. Ohne noch Groß zu überlegen machte sie sich daran beides auszuräumen. Unter einiger Kraftanstrengung schaffte sie es irgendwie, dass die beiden Möbelstücke ihre Plätze tauschten. Erneut bot sie ihr ganzes gestalterisches Talent auf und versuchte das Figürchen auf der Kommode, nun am neuen Platz stehend, mit diversen anderen Einrichtungsgegenständen zu kombinieren. Doch es war einfach hoffnungslos. Erschrocken sah sie auf die Uhr und stellte fest, dass es gegen Mitternacht zuging. Erschöpft beschloss sie das Wohnzimmer im aktuellen Chaos zu belassen und sich schlafen zu legen. Sie fand schnell in den Schlaf doch plagten sie in der Nacht schreckliche Albträume von dunklen Eichenschränken die zu kippen und sie zu erschlagen drohten.

Als Alina am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich wie von einem Zug überrollt. Sie glaubte nur zwei Stunden geschlafen zu haben und ihr Rücken schmerzte wie noch nie in ihrem Leben. Sie stand mühevoll auf, zog sich etwas Bequemes an schleppte sich mit bangem Gefühl in ihr Wohnzimmer. Sie betrachtete die am Vorabend entstandene Unordnung und entdeckte die Ballerina auf dem kleinen Tischchen in der Mitte des Zimmers. Der arrogante und kühle Gesichtsausdruck der Keramikfigur brachte Alina aus der Fassung. Sie begann zu schluchzen und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie kam sich als Versager vor, der an den banalsten Alltagdingen scheitert. Sie lief ins Badezimmer auf der Suche nach einem Taschentuch. Sie erfrischte ihr Gesicht mit kühlem Wasser und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Augen waren aufgequollen, ihr Gesichtsausdruck zeugte von Erschöpfung. Ihr Magen machte sich mit einem lauten Knurren bemerkbar. Erst jetzt realisierte sie, dass sie vor lauter Möbel-Geschiebe am Vorabend vergessen hatte etwas zu essen. Sie machte sich in der Küche ein Rührei und Schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Nachdenklich aß sie ihr Frühstück, öffnete das Küchenfenster und machte sich erneut auf ins Badezimmer um zu duschen. Sie hatte gerade ein frisches Duschtuch bereitgelegt und wollte beginnen sich auszuziehen, als sie ein klirrendes Geräusch und einen Aufschrei hörte. Alina rannte aus dem Badezimmer und lief in Richtung Wohnzimmer, woher der Lärm zu kommen schien. Gerade als sie durch den Türrahmen schritt huschte etwas Dunkles links von ihr durch den Raum und sprang hinter das Sofa. Alina erstarrte vor Schreck und suchte mit ihren Augen das Wohnzimmer ab. Ihr Blick blieb in der Mitte des Raumes stehen. Scherben lagen vor dem Tischchen, auf dem vor ein paar Minuten noch die Ballerina stand. Regungslos verharrte sie im Türrahmen und starrte auf die zerstörte Figur hinab. Sie hörte ihr Herz klopfen, ansonsten war es still in ihrem Kopf. Keine Gedanken, nichts.

Die Türklingel holte sie aus ihrer geistigen Abwesenheit. Wie in Trance drehte sie sich langsam und zur Wohnungstür. Es klingelte nochmals.

„Ist Fritzchen bei Ihnen?“, fragte ein aufgeregt wirkender Mann Mitte Vierzig als sie die Tür öffnete.

„Fritzchen?“, erwiderte Alina ganz verwirrt.
„Ja, mein Kater. Er ist mir heute Morgen entwischt und ich lief ihm nach bis zu ihrem Haus. Ich hatte ihn schon fast erwischt als er durch einen Garten rannte und danach durch ein offenes Fenster im Erdgeschoss kletterte. War das den nicht ihr Fenster?“.
„Doch, doch. Fritzchen versteckt sich wohl in meinem Wohnzimmer.“

Das Gesicht des Herrn entspannte sich und er begann zu lächeln. Auch Alina begann zu lächeln. "Kommen sie doch bitte rein.“


Version vom 06. 06. 2016 15:46

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Ralph Ronneberger
Foren-Redakteur
Autor mit eigener TV-Show

Registriert: Oct 2000

Werke: 62
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